Sonntag, 23. Dezember 2012

Türchen Nummer 23

Heute ist der vierte Advent. Und wer könnte uns hier besser an eine Besinnlichkeit heranführen, die nicht auf irgendwelchen  Religionen basiert, sondern auf dem Leben an sich, als Henry. Morgen dann noch nen Weihnachtsgruß von mir. Viel Spaß!

Alles

Während ich schreibe, hämmert es in meinem Kopf. Meine Familie bemitleidet mich. Und meine Erschöpfung erreicht langsam den Zustand, bei dem ich einfach nur ins Bett fallen und mich vergessen möchte. Zuvor steht aber noch dieser Beitrag hier an. Und ich will ihn unbedingt schreiben, weil ich den Wunsch habe, es anderen Leuten mitzuteilen. Und es ist nicht einfach nur irgendwas. Es ist wichtig. Verdammt wichtig.

Deshalb bin ich auch glücklich darüber, dass mich Wilhelm dazu motiviert hat und dass es für solche Momente diese andere Seite in mir gibt: diesen merkwürdigen Enthusiasmus, der mich antreibt, aufbaut und alles. Der übernimmt jetzt. Und: Ich vertraue ihm. Sicher, er ist kein so großer Denker und manchmal übertreibt er auch, aber zumindest spiegelt er das wider, was ich anderen nicht so häufig zeigen kann. Weil es eben nicht mein gesamtes Ich darstellt. Es ist nur ein Teil. Aber es ist der Teil, der mich überhaupt zu irgendwas anregt. Also bitte.

Ich bin in meinem Leben schon häufig an Grenzen gestoßen, die mich dazu gebracht haben, darüber nachzudenken, was es bedeutet, überhaupt am Leben zu sein. In der siebenten Klasse beispielsweise wurde mir schlagartig bewusst, dass ich sterblich bin, dass alle Menschen sterblich sind. Dass ich irgendwann nicht mehr zu meinen Verwandten gehen kann, weil sie einfach nicht mehr da sein werden. Es ... war keine gute Einsicht. Mittlerweile sind wir ja alle gut darin geworden, solche Gedanken weit von uns wegzuschieben und sie nur herauszuholen, wenn wir damit wirklich direkt konfrontiert werden. Aber als nachdenklicher Jugendlicher? Es hat mich zerstört.

Und was soll das auch alles bringen? Und warum hört mir niemand zu? Warum sprechen wir immer nur über dasselbe? Warum bemerken die anderen nicht, wie furchtbar diese Welt ist? Sie lachen alle weiter, gehen ihrem Trott nach und fühlen nicht, wie um sie herum alles jederzeit auseinander brechen könnte. Es war für mich nicht nachvollziehbar, aber ich habe es hingenommen. Ich kannte nur diese Welt. Vielleicht bin ich es ja auch, der etwas falsch verstanden hat? - Aber nein. Ich habe nichts falsch verstanden. Mir wurde nur zum ersten Mal bewusst, wie unsere Welt etwas um uns herum tabuisiert, damit wir trotz all dieser Schrecklichkeit ein glückliches Leben führen können.

Ich fing an, mich intensiver mit Religion zu beschäftigen. Als kleiner Junge empfand ich Religion noch als etwas Fantastisches. Ich betete dafür, dass mein Großvater eine Operation gut übersteht. Ich wollte nicht, dass er stirbt, dass er fortgeht. Er ist nicht fortgegangen. Ich war glücklich. Alles war gut. Doch dann gab es diesen Riss in meiner Wahrnehmung, diese Kluft zwischen beliebigen Annahmen und der Nichtexistenz von realen Erscheinungen. Ich beschloss, dass der Glauben Unsinn ist, weil er von mir verlangt, dass ich etwas akzeptiere, weil alle anderen Menschen es auch akzeptieren. Und das überzeugte mich nicht.

Ich brauche keine Vorstellung von einer besseren Welt, die mir diese Welt erträglich machen soll. Nicht wenn sie auf Wunschdenken basiert. Doch was gibt es sonst schon für einen Ausweg? Ignoranz vielleicht? Nein, es gibt keinen Ausweg. Aber was dann? Das Leben wurde für mich immer belangloser. Die Menschen um mich herum gaben mir nichts mehr. Und ich verlor mich in meinen Gedanken. Und niemand verstand das. Nicht meine Eltern, nicht meine Freunde, nicht mal ich selbst.

Und doch. Es gab Hoffnung. Nicht gegen den Tod. Aber gegen die Vorurteile im Leben. Wenn ich mir sicher bin, dass ich und alle anderen Menschen sterben, dann sollte ich vielleicht darüber nachdenken, wie ich mit dem Leben, das ich jetzt besitze, glücklich werde. Und wie ich mein Leben dazu nutzen kann, andere auch glücklich zu machen, damit sie sich darin bestärkt sehen, genauso zu handeln. Sterblichkeit ist bei dieser Aufgabe nicht leicht. Sie zwingt einen dazu, sich für Dinge zu entscheiden, bei denen wir zu keiner Zeit genau wissen, ob sie einen wirklich glücklich machen. Aber möglicherweise liegt die Antwort tiefer. Vielleicht gibt es einen Weg das Leben trotz seiner Schwierigkeiten ohne Bedingungen zu lieben.

Bei mir fing diese Entwicklung in der elften Klasse an. Wir verstreuten uns in die einzelnen Kurse, lernten neue Menschen kennen und entwickelten unsere eigenen Herangehensweisen an die Welt. Und diese Entwicklung von damals setzt sich bis heute fort. Und in diesem Jahr, 2012, bin ich mir erstmals in meinem gesamten Leben darüber bewusst geworden, warum ich das Leben liebe.

Mir ist bewusst geworden, dass das Jetzt einzigartig ist. Dass jeder Moment, den wir erleben, im Kontrast zu unendlich vielen anderen Momenten steht und dass diese Momente trotz Parallelen immer unterschiedlich sein werden. Und der jetzige Moment ist das genaue Ende dieser Kette von Jahrmillionen der Entwicklung. Alles, was jemals passiert ist, kulminiert genau in diesem jetzigen Augenblick. Und je mehr ich über ihn erfahre, desto mehr lerne ich auch über die Entwicklung insgesamt und kann diesen Moment umso besser einschätzen. Was mir wiederum dabei hilft, ihn wertzuschätzen.

Und wenn ich diese Worte schreibe, dann ist das eine Erkenntnis, die nicht nur fünf Jahre brauchte, um heranzureifen. Sie brauchte mein ganzes Leben, um sich überhaupt zu manifestieren. Es ist eine Erkenntnis, die mich zu Tränen rührt, die mich innerlich aufrüttelt, die mich dazu antreibt, das Mädchen meiner Träume fest in den Arm zu nehmen und ohne zu zögern, zu küssen, weil diese Erkenntnis mir vermittelt, was es verdammt noch einmal bedeutet, zu leben.

3 Kommentare:

Matti hat gesagt…

Freut mich, dass du deinen Weg gefunden hast, das Leben zu lieben.
Frohe Weihnachten!

Anonym hat gesagt…

Hatte noch jemand beim Lesen der letzten Zeilen Gänsehaut?

Also ich schon...


Anonym hat gesagt…

Achso, noch was Konstruktives:
Sehr schöner Abschluss für den Adventskalender. Toll geschrieben, sehr inspirierend und hoffnungsvoll. In einigen Abschnitten habe ich mich wiedererkannt, von einigen Erkenntnissen bin ich noch weit entfernt.